Neuerungen der IVV per 01.01.2024: Chancen und Herausforderungen

Am 1. Januar 2024 tritt die revidierte Invaliditätsversicherungsverordnung (IVV) in Kraft, wobei ein Modell mit einem pauschalen arbeitsmarktlichen Abzug auf das Invaliditätseinkommen eingeführt wird (sog. Pauschalabzug). Als Teil einer umfassenden Strategie, die darauf abzielt, die Chancen auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung zu steigern und sachgerechte Renten zu gewähren, verspricht dieser Abzug positive Auswirkungen auf die Leistungen und Renten für Versicherte. Wie der Titel bereits erkennen lässt, ist mit dieser Chance allerdings auch eine Reihe an Herausforderungen zu erwarten.

1. Grundsätzliches

Bei der Bemessung des Invaliditätsgrades wird das ohne Invalidität mutmasslich erzielbare Einkommen (Valideneinkommen) dem Einkommen gegenübergestellt, das mit der gesundheitlichen Beeinträchtigung noch erzielt werden kann (Invalideneinkommen). In Fällen, in denen nach Eintritt der Invalidität ein geringeres Einkommen erzielt wird als tatsächlich zumutbar wäre, sind die Tabellen der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) beizuziehen. Bei den Angaben in den Tabellen handelt es sich allerdings um Durchschnittswerte, welche nicht nur eingeschränkte Personen auf dem Arbeitsmarkt abbilden, sondern auch vollkommen leistungsfähige Personen mitberücksichtigen. In der Realität erzielen invalide Personen auf dem Arbeitsmarkt allerdings oftmals bedeutend weniger Einkommen als gesunde Personen. Durch die Anwendung der LSE-Werte wird invaliden Personen somit regelmässig mehr Einkommen zugemutet als sie tatsächlich erzielen können. In vielen Fällen resultiert daraus ein geringerer Invaliditätsgrad und damit geringere Renten.

2. Der Pauschalabzug

Am 1. Januar 2024 tritt die revidierte IVV mit einem alternativen Modell in Kraft. Bei der Festlegung des Invalideneinkommens mittels statistischer Werte wird nun ein pauschaler arbeitsmarktlicher Abzug von 10% vorgenommen. Besteht lediglich eine funktionelle Leistungsfähigkeit von 50% oder weniger, werden gesamthaft max. 20% abgezogen. Das alternative Modell sieht vor, dass neben dem bereits existierenden Teilzeitabzug von 10 Prozent ein zusätzlicher Pauschalabzug von 10 Prozent gewährt werden kann, was in gewissen Fällen einen Gesamtabzug von 20 Prozent ermöglicht. Weitere Abzüge sind allerdings nicht möglich.

Mit dem Pauschalabzug sollten diese Einkommenseinbussen kompensiert und die finanzielle Belastung für Versicherte gemildert werden. Sofern der neue Pauschalabzug greift, kann sich der Invaliditätsgrad erhöhen und damit Anspruch auf höhere Rentenleistungen bestehen.

Mit diesen neuen Regelungen können Leistungen in Form von Umschulungen und Renten zugesprochen werden, welche die Chancen auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung steigern und ermöglichen, dass sachgerechte Renten zugesprochen werden. Insbesondere für Frauen und Personen, die Tätigkeiten in eher tieferen Lohnsektoren ausüben, wirkt sich dies positiv aus.

3. BVG-Renten

Leistungen aus der beruflichen Vorsorge sind ebenfalls gestützt auf den neuen (höheren) Invaliditätsgrad zu berechnen. Sofern keine Kürzung wegen Überentschädigung erfolgt und nicht der überobligatorische Bereich betroffen ist, kommt es bei einem höheren IV-Grad auch zu einer Erhöhung der BVG-Rente.

4. Intertemporales Recht

Diese Änderungen betreffen sodann nicht nur Neuanträge, sondern werden auch auf bereits laufende Renten angewandt. Die IV-Stellen müssen die Renten somit innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der neuen Regelungen revidieren, wobei die Rechtsänderung den Revisionsgrund ersetzt. Damit wird garantiert, dass die laufenden Rentenansprüche an die geänderte Rechtslage angepasst werden (vgl. BGE 121 V 157 E. 4a). Ausgenommen von dieser Revision sind IV-Rentner und IV-Rentnerinnen, die am 1. Januar 2022 das 55. Altersjahr bereits erreicht haben.

Durch die Neuerung kann es sein, dass gewisse Personen, deren IV-Grad knapp unter 40% lag und deren Anspruch auf eine IV-Rente abgelehnt wurden, nun doch einen Anspruch haben. Für Personen, deren Rentenantrag bereits einmal abgelehnt wurde, erfolgt allerdings keine automatisierte Überprüfung nach den neuen Bestimmungen. Vielmehr muss eine Neuanmeldung nach den allgemeinen Regeln vorgenommen werden.

Eine allfällige Erhöhung der Rente bei der Revision erfolgt unabhängig vom Zeitpunkt der Revisionseinleitung per 1. Januar 2024. Bei IV-Rentnern und IV-Rentnerinnen, die eine volle IV-Rente beziehen, erübrigt sich die Revision, zumal keine höhere Rente zugesprochen werden kann. Ebenfalls keine Revision wird eingeleitet, wenn es durch die Rechtsänderung zu einer Schlechterstellung der Rente kommen würde.

Vgl. zum Ganzen Erläuternder Bericht des EDI zur Änderung der IVV vom 18. Oktober 2023, S. 6 ff.

ps / 30.12.2023