BGE 141 V 281

Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 3. Juni 2015 seine Rechtsprechung zur invalidisierenden Wirkung somatoformer Schmerzstörungen und vergleichbarer psychosomatischer Leiden in zentralen Punkten geändert. Es reagiert mit dieser Praxisänderung auf die anhaltende Kritik an der bisherigen Rechtsprechung bezüglich Invalidenrenten bei ätiologisch unklaren Beschwerdebildern. Künftig entfällt die für die bisherige Praxis zentrale Überwindbarkeitsvermutung. Das bisherige Regel/Ausnahme-Modell sei durch einen strukturierten, normativen Prüfungsraster zu ersetzen (E. 3.6 und 5.1). Anhand eines Katalogs von Indikatoren habe künftig eine ergebnisoffene symmetrische Beurteilung des tatsächlich erreichbaren Leistungsvermögens zu erfolgen (E. 3.6 und E. 4). Die funktionellen Auswirkungen einer psychosomatischen Störung seien stärker als bisher zu berücksichtigen, wozu ein strukturiertes Beweisverfahren durchzuführen sei (E. 6).

Doch welche Auswirkungen hat der Entscheid für Betroffene?

Stärker als bisher legt das Bundesgericht sein Augenmerk auf die Diagnosestellung. Laut Prof. Dr. iur. Thomas Gächter, Ordinarius für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, und MLaw Michael E. Meier, wissenschaftlicher Assistent am selben Lehrstuhl, sollte die Änderung weg von der (sehr) strengen alten Schmerzrechtsprechung keine markant steigenden Neurenten zur Folge haben. Es ist zu erwarten, dass bei den von der neuen Praxis erfassten Krankheitsbildern häufiger als bisher die Zumutbarkeit der Arbeitsleistung (nur) teilweise bejaht oder verneint wird und es damit häufiger als bisher zu Teilberentungen kommt.

Andreas Bossard, 29.10.2015